Russland:Die Last der Nummer 70

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Wenige Talente, schlechte Tests und Misstrauen in den Medien: Russland kann froh sein, wenn die Nationalmannschaft die Vorrunde übersteht.

Von Johannes Aumüller, Nowogorsk

Sogar Teile des Dehnprogramms sind kurz vor dem WM-Beginn Chefsache. Erst den rechten Oberschenkel stramm ziehen, dann den linken. Es folgt noch etwas für die Wadenmuskulatur, aber danach soll wieder der Assistent übernehmen - während sich der Boss den Übungen der Torhüter in der anderen Spielfeldhälfte widmet. Stanislaw Tschertschessow, der auch mit seinen mittlerweile 54 Jahren noch jenen Schnauzer trägt, der ihn als Torhüter von Dynamo Dresden in den Neunzigerjahren bekannt gemacht hat, ist stets für ein bisschen Flachs gut. Aber in diesen Tagen ist der Cheftrainer von Russlands Nationalmannschaft, der Sbornaja, doch merklich angespannt.

Es ist eine schwere Aufgabe, die der gebürtige Ossete und sein Team zu bewältigen haben. Die Sbornaja soll ein erfolgreiches Heimturnier absolvieren, und viele Russen fragen sich, wie das funktionieren soll. Zu schwach erscheint Tschertschessows Mannschaft. Als Nummer 70 der Weltrangliste geht sie als formal schlechtester Teilnehmer ins Turnier. Sowohl bei der WM 2014 als auch bei der EM 2016 war sie in der Vorrunde chancenlos ausgeschieden. Von den vergangenen sieben Spielen gewann sie keines. "Alles ist schlecht", titelte die russische Zeitung Sport Express nach den letzten Testpartien gegen Österreich (0:1) und die Türkei (1:1).

Abschlusstraining vor dem ersten großen Auftritt: Die Spieler der Sbornaja im Moskauer Luschniki-Stadion. (Foto: Dan Mullan/Getty Images)

In den vergangenen Jahren waren im Land teils große Ziele formuliert worden; vom Halbfinaleinzug als Zielvorgabe sprachen gar manche Vertreter des russischen Fußballverbandes. Zuletzt sind die Verantwortlichen zurückhaltender geworden. Die Gruppenphase zu überstehen, das ist jetzt die Losung - und angesichts einer so gastgeberfreundlichen Gruppe, die nach dem Auftaktspiel gegen Saudi-Arabien (Donnerstag, 17 Uhr) noch Partien gegen Ägypten und Uruguay vorsieht, klingt das auch keineswegs verwegen. Aber trotzdem ist die Stimmung vor Ort ziemlich skeptisch, und viele Beobachter glauben, dass es nicht einmal mit dem Minimalziel Achtelfinale etwas werden wird.

Mancher in der Mannschaft ist von der landesweit verbreiteten Skepsis etwas genervt. "Euer Job ist es, an uns zu glauben", befand Tschertschessow dieser Tage gegenüber russischen Journalisten, und er ergänzte: "Ich lese nicht alles, wir können die Meinung der Menschen eh nicht beeinflussen." Und auch sein Stürmer Artjom Dsjuba gab sich irritiert. Am Dienstag stand er in einem Raum auf dem Trainingsgelände von Nowogorsk, 30 Kilometer von der Moskauer Innenstadt entfernt in einem Städtchen namens Chimki. Die Nationalelf zieht sich traditionell in dieses abgeschiedene Ambiente zurück. Dort jedenfalls redete sich Dsjuba mächtig in Rage. "Alle tun jetzt so, als ob wir früher regelmäßig die Gruppenphase überstanden hätten und als ob die aktuelle Mannschaft die schlechteste der Geschichte sei. Das beleidigt und verärgert uns", schimpfte der Angreifer von Arsenal Tula. Wenn Frankreich in einem Test nur 1:1 spiele und dessen Trainer das mit der belastenden Vorbereitung erkläre, hätten alle Verständnis. Wenn Russland in einem Test nur 1:1 spiele und der Trainer das mit der belastenden Vorbereitung erkläre, würden alle lachen.

Zurzeit prominentester Schnauzbart Russlands: Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow hat eine schwere Aufgabe. (Foto: Kai Pfaffenbach/Reuters)

Dabei ergibt sich die Skepsis nicht nur aufgrund der schlechten Statistik, sondern auch aus einem Blick aufs Personal. Denn es ist einerseits eine international kaum erfahrene Mannschaft, die Russland bei der heimischen WM vertritt; in Person des Ergänzungsspielers Denis Tscheryschew (FC Villarreal) und des Ersatztorwartes Wladimir Gabulow (FC Brügge) stehen nur zwei Akteure bei ausländischen Klubs unter Vertrag. Die Stammformation hingegen zieht den Komfort und die üppigen Bezüge des Heimatlandes einer fußballerisch schwierigeren Aufgabe vor. Andererseits ist es eine sehr alte Mannschaft, eine der betagtesten des Turnieres, mehr als 28 Jahre beträgt der Altersdurchschnitt.

Somit sind die bekanntesten Namen der Sbornaja diejenigen von Routiniers, die schon bei der EM 2008 mitwirkten, als die Mannschaft mit irritierend umfangreichem Laufaufwand und verblüffenden Sprinterqualitäten bis ins Halbfinale kam. Der Torwart Igor Akinfejew ist noch dabei, der Linksfuß Jurij Schirkow und der ewige Innenverteidiger Sergej Ignaschewitsch, der einen Tag vor dem WM-Finale 39 Jahre alt wird und schon zurückgetreten war, aber kurzfristig doch einsprang. Der Grund: Ruslan Kambolow musste gestrichen werden, offiziell wegen einer Verletzung. Aber das war ein auffälliger Schritt, denn der Verteidiger von Rubin Kasan war einer der Spieler, gegen die sich aus den Dokumenten zum Staatsdoping einige konkrete Nachfragen seitens des Weltverbandes ergeben hatten.

Dabei ist es nicht so, dass sie in Russland über keinerlei talentierte Kicker verfügen. Die Offensivspieler Alan Dsagojew (ZSKA Moskau) und Fjodor Smolow (FK Krasnodar) etwa gelten als große Begabungen - aber sie gelten eben schon eine ganze Weile als große Begabungen. In unregelmäßigen Abständen heißt es, dass sie vor dem Wechsel zu diesem oder jenem europäischen Großklub stünden, aber bisher kam es nie zu diesem Schritt. Und nun sind sie auch schon 27 beziehungsweise 28 Jahre alt und spielen noch immer in Russland.

Der Mangel an Talenten ist seit Jahren ein großes Thema in der russischen Debatte. Aber immerhin: Der eine oder andere jüngere Spieler rückte in den vergangenen Jahren doch noch nach. Das trifft insbesondere auf Alexander Golowin zu, einen 22-jährigen Mittelfeldmann von ZSKA Moskau, der in der Zentrale als gesetzt gilt.

Es sind aber weitgehend Profis ohne große Namen, die sich unter Tschertschessows Führung nun an dem WM-Projekt versuchen. Sie sind noch namenloser als jene Mannschaft um Andrej Arschawin & Co., die bei der EM 2008 so erfolgbringend und verdächtig laufintensiv herumflitzte.

© SZ vom 14.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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